Getrennte Wege

Durch etwas dreckige Fenster hindurch kann man eine uninteressante Häuserfassade erkennen. Man befindet sich im vielleicht vierten oder fünften Stock eines modern eingerichteten Fitness-Studios. Eines momentan sehr menschenarmen Studios. Wahrscheinlich tummeln sich gegen Nachmittag mehr Menschen in Muckibuden, aber jetzt ist es nun mal früher morgen und Mr. Kennedy ist einer der wenigen Kunden, die diesen Laden für die Nutzung aller Trainingsgeräte bezahlt. Im Moment rackert sich das lädierte Loudmouth am Laufband ab. Einerseits um die Grenzen seiner Ausdauer auszuloten, andererseits um seine Knie an Belastungen zu gewöhnen. Schwitzend trabt Ken also auf der Stelle. Der Blick stets auf die uninteressante und dreckige Häuserfassade von gegenüber gerichtet. Langsam aber sicher verliert er sich wie von selbst in dieser Fassade. Die Backsteine bilden hier und da merkwürdige Muster. Er verliert sich in Gedanken.

"Eine Chance auf den Pure Title... Ein Geschenk... von Eric Bischoff... Der alte Mann hat wieder irgendwas vor. Irgendwas... Wahrscheinlich holt er zu seinem letzten Schlag gegen mich aus, um mich endgültig aus der Liga zu putzen... Stress. Nichts als Stress... Warum tue ich mir das alles eigentlich an? Jede Woche aufs Neue. Um Kämpfe betrogen. Streit zu Hause. Die scheiß Gesundheit. Warum?"

Vollkommen in seiner eigenen Gedankenwelt versunken, greift Kennedy automatisch zum nahe liegenden Handtuch und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Man weiß zwar nicht wie lange er sich schon selbst quält, aber die Menge an Schweiß lässt erahnen, dass es mehr als 20 Minuten sein müssen. Schwer atmend schraubt er die Geschwindigkeit noch mal eine Stufe höher. Ehe sich Mr. K aber wieder tieferen Fragen widmen kann, wird er aus der innehaltenden Starre gerissen.

Shawn:
„Sag mal, hörst Du mir eigentlich zu?“

Perplex schüttelt Kennedy innere Fragen bei Seite und versucht krampfhaft seinen Blick von der Fassade zu lösen. Gar nicht so leicht. Doch die vertraut feminin klingende Stimme zieht ihn in in einen Bann. Natürlich ist es Kennedys bessere Hälfte, Shawn. Sie sitzt auf einer Hantelbank, nicht weit entfernt. Sie ist nicht wirklich luftig gekleidet, was vermuten lässt, dass sie nicht zum Trainieren hier ist. Kennedy reagiert mit einem fragenden Gesichtsausdruck.

Mr. Kennedy:
„Hm?“

Shawn:
„Ich habe gefragt, ob Dir nicht klar ist, dass das nicht mit rechten Dingen vor sich geht! Dein Ex-Chef oder Chef oder... was weiß ich... Bischoff halt, setzt Dich im Main Event ein und gibt Dir damit die Möglichkeit das zu erreichen, was Du von Anfang an erreichen wolltest. Kommt Dir das nicht merkwürdig vor?“

Mr. Kennedy:
„Nein, Schatz. Habe ich es nicht erwähnt? In Wahrheit führe ich ein Doppelleben, bin Bisexuell und mache hinter den Kulissen mit dem alten Mann rum. Ja, ich habe mit ihm geschlafen, damit ich diesen Title-Shot bekomme... Jetzt ist es raus...“

Frech grinst Kennedy Shawn an, die wiederum entnervt mit den Augen rollt. Ein klassisches Zeichen von Sarkasmus. Scheinbar ein von Kennedy oft angewendetes Mittel; auch außerhalb des Rings.

Mr. Kennedy:
„Come on... Für wie dämlich hältst Du mich eigentlich? Das ist das kleine Wrestling-Einmaleins. Regel Nummer eins: Vertraue niemandem! Natürlich ist das ein abgekatertes Spiel. Bischoff wird einen Teufel tun und mir den Titel in den Schoß fallen lassen. Er wird zum richtigen Zeitpunkt mit dem Finger schnippen und schon kommen seine gelackmeierten Arschkriecher ins Spiel. Und genau die werden es zu verhindern wissen, dass ich auch nur in die Nähe eines Sieges komme. Glaub mir: dem Mann ist alles zuzutrauen!“

Shawn:
„Und wie kannst Du dabei so ruhig bleiben? Ken, das ist doch hirnrissig! Du weißt jetzt schon, dass Du aufs Maul kriegen wirst, dass Du das Match nicht gewinnen wirst... und trotzdem trittst Du an. Direkt in eine aufgestellte Falle! Was geht bitte in Dir vor?“

Mr. Kennedy:
„Ich erwarte nicht, dass Du das verstehst...“

Shawn:
„Klar, das Business ist kompliziert und blablabla...“

Mr. Kennedy:
„Nein. Ich erwarte nicht, dass Du es verstehst - als Frau!“

Fassungslos schüttelt Mrs. Kennedy ihr Haupthaar. Ihr entfleucht dabei ein abtrünniges Lachen.

Mr. Kennedy:
„Versteh mich nicht falsch... Aber Du hast eben nicht den nötigen Ehrgeiz. Oder rein biologisch gesprochen: Du hast nicht die Eier in der Hose... Es geht hier um mehr als nur einen Sieg, Shawn. Du kennst meinen Werdegang. Du weißt, wie oft ich so nah an dem Titel war und dass ständig etwas dazwischen kam. Jetzt ist der Pure Title Mittel zum Zweck. Wichtiger denn je! Und ich werde jede verdammte Chance nutzen, die ich kriegen kann. Selbst wenn...“

Shawn:
„... Du am Ende wieder verletzt und blutig geschlagen am Boden liegst!“

Mr. Kennedy:
„Vielen Dank für Deinen seelischen Beistand. Das baut mich tierisch auf, wirklich.“

Shawn:
„Was erwartest Du? Dass ich stolz bin, dass mein Mann sich immer mehr kaputt macht? Bewusst kaputt macht! Ich habe es Dir schon tausend mal gesagt: Du übernimmst Dich hier, Ken! Du weißt genau so gut wie ich, dass Dein Körper das nicht aushält. Und ich sehe jetzt schon, wie das alles ausgehen wird. Es wird nicht lange dauern, dann bist Du nicht mehr in der Lage ohne Hilfe einen Schritt zu machen, weil... weil... weil Dir dieser Thorn einen Wirbel angebrochen hat... oder Bischoff es geschafft hat Dich in ein Match zu stecken, wo Du Dir alle Arme und Beine gleich dreimal brichst... Dann haben wir kein Einkommen mehr, müssen alles was wir haben verkaufen und unser ungeborenes Kind muss hungern!“

Mr. Kennedy:
„Na ein Glück, dass Du die optimistische Person in unserer Beziehung bist.“

Shawn bekommt schon leicht glasige Augen. Die ganze Geschichte geht ihr scheinbar sehr nahe. Sie hat Angst um Ihren Mann. Um Ihre Zukunft. Und die Zukunft Ihres Kindes.

Shawn:
„Das ist nicht witzig, Ken.“

Mr. Kennedy:
„Sorry, aber ich kann über solche Horror-Zukunftsvisionen nur lachen. Deine Angst ist unberechtigt. Du weißt, dass ich fit bin. Sieh mich an! Mir geht es blendend! Ich bin in der Form meines Lebens, Honey. Meinen Knien geht es immer besser und ich kann mich im Ring uneingeschränkt bewegen. Es ist scheinbar ziemlich schwer mir zu vertrauen... Und wenn ich ehrlich bin, brauche ich jetzt aufbauende, motivierende Worte. Jemanden, der hinter mir steht. Wenn Du das nicht kannst, solltest Du besser wieder gehen!

Klare Worte vom Loudmouth. Eine kurze Handbewegung reicht aus und schon stoppt das Laufband. Das Handtuch fährt noch mal über sein Gesicht und befreit es vom perlenden Schweiß. Shawn hat sich derweil erhoben. Sie hat keinen Blick mehr für ihren Mann übrig und ist sichtlich bewegt.

Shawn:
„Es tut mir leid, aber ich kann nicht mit ansehen, wie Du unsere gemeinsame Zukunft einfach so wegwirfst... Für nichts und wieder nichts! Trotzdem viel Glück, Ken. Vielleicht wird ja wenigstens einer von uns beiden mal glücklich und erfüllt sich seinen Traum... Wir telefonieren.“

Aufgebracht und innerlich aufgewühlt dreht Shawn ihrem Mann den Rücken zu und verlässt im agilen Schritttempo das Fitness-Studio. Mister Kennedy versucht sie noch zu beruhigen. Er springt vom Laufband und versucht ihr nachzurennen. Dabei ruft er ihr nach.

Mr. Kennedy:
„Shawn, warte! Du übertreibst maßlo-ah! Shit...“

Kennedys Gesichtsausdruck lässt Schmerzen erahnen. Verkrampft stützt er sich an einer Wand ab. Die andere Hand wandert zu seinem Knie. Die Augen zu einem engen Schlitz zusammengekniffen und die Zähne zusammengebissen - dieser Mann hat Schmerzen. Humpelnd sucht der leidende Verbalcore Renegade die Hantelbank auf und nimmt erleichtert Platz. Seine Frau ist schon über alle Berge und kriegt nicht mit, wie ihr Mann sich nun beide Knie hält und dabei schmerzerfüllte Seufzer von sich lässt.

"Scheiße, nein... Nicht jetzt! Nicht... jetzt!"


*closed*

__________________

The Green Bay Host